Ethische Konflikte und Dilemmata in der bibliothekarischen Praxis - Fallstudien


Ethische Fundierung bibliothekarischer Praxis (EFubiP) - Einführung
Inhaltsverzeichnis
  1. Vorbemerkung
  2. Konflikte und Dilemmata
  3. Bezug zur bibliothekarischen Berufsethik
  4. Zweck der Fallstudiensammlung
  5. Materialgewinnung
  6. Struktur der Fallstudien
  7. 6.1 Metadaten
    6.2 Fallbeschreibung
    6.3 Wertbezüge
    6.4 Lösungsvarianten
    6.5 Literaturhinweise
    6.6 Nutzerkommentare
  8. Zur Nutzung der Datenbank
  9. Literatur

Wir würden uns freuen, wenn Sie die Fallstudien durch Ihre Kommentare und die Schilderung eigener Erfahrungen bereichern würden! Nutzen Sie dazu bitte einfach das Formular am Ende der jeweiligen Studie.

Sie haben selbst interessante Fälle in der Praxis erlebt, die in die Datenbank aufgenommen werden könnten? Bitte nehmen Sie Kontakt auf mit dem Projektleiter Hermann Rösch auf.

Vielen Dank!

  1. Vorbemerkung

    Das Projekt EFubiP präsentiert als Grundstock 27 Fallstudien, in denen ethische Dilemmata und Konflikte behandelt werden, die in der bibliothekarischen Praxis typischerweise auftreten. Die Arbeiten am Projekt haben im Sommersemester 2013 begonnen. Projektleiter ist Prof. Dr. Hermann Rösch, Institut für Informationswissenschaft der TH Köln.

    Die laufende Erweiterung der Fallstudiensammlung ist geplant.
  2. Konflikte und Dilemmata

    Konflikte treten auf, sobald unterschiedliche Interessen und Wertorientierungen eine einvernehmliche Lösung ausschließen. Wenn etwa ein fundamentalistischer Anhänger einer Religionsgemeinschaft verlangt, dass alle Werke, Medien und Informationen, die den Grundüberzeugungen dieser Religion widersprechen aus dem Bestand einer Bibliothek entfernt werden, liegt ein Konflikt vor zwischen diesem Partikularinteresse und dem bibliothekarischen Grundwert der Zensurfreiheit und des freien Zugangs zu Informationen. Es handelt sich also nicht um ein Dilemma, sondern um einen Konflikt, der aus bibliotheksethischer Sicht eindeutig zu lösen ist: Das Zensurbegehren muss zurückgewiesen werden, denn Aufgabe der Bibliothek ist es, den uneingeschränkten Zugang zum gesamten Meinungs- und Weltanschauungsspektrum zu bieten.

    Ein Dilemma hingegen liegt vor, wenn die verschiedenen Lösungen einer konfliktären Situation jeweils unterschiedliche bibliotheksethische Grundwerte verletzen. Wenn etwa Obdachlose die Bibliothek benutzen, ist dies zunächst grundsätzlich zu begrüßen, da das bibliothekarische Angebot sich auch auf Benachteiligte richtet. Wenn ein Obdachloser jedoch in verwahrlostem Zustand die Bibliothek benutzt, so dass sich andere Nutzer z.B. über Geruchsbelästigung beschweren, muss eine Entscheidung getroffen werden, die in jedem Fall einen Grundwert verletzt: entweder jenen der Gleichbehandlung, falls der Obdachlose vorläufig des Hauses verwiesen wird, oder jenen der professionellen, nutzerorientierten Präsentation von Beständen und Dienstleistungen, falls dem Obdachlosen gestattet wird, im Haus zu bleiben mit der Folge, dass andere Nutzer das Haus wegen der Geruchsbelästigung verlassen.

    An diesen Beispielen mag deutlich werden, dass an Konflikten und Dilemmata in der bibliothekarischen Praxis kein Mangel besteht. Wichtig aber ist, dass die zur Lösung notwendigen Überlegungen die bibliothekarischen Grundwerte berücksichtigen. Allzu oft aber werden Entscheidungen aus mangelndem Problembewusstsein aus rein subjektiver Sicht, auf der Grundlage des sog. „gesunden Menschenverstandes“ getroffen oder aber unter Berufung auf rechtliche Rahmenbedingungen, deren Relevanz unterstellt wird. Insbesondere der „gesunde Menschenverstand“ ist eben kein überprüfbarer allgemeiner Standard, sondern eine kontingente, meist höchst subjektive Haltung, die als universell deklariert wird.
  3. Bezug zur bibliothekarischen Berufsethik

    Berufsethische Arbeit zielt darauf, die Entscheidungsfindung zur Lösung praktischer Konflikte und Dilemmata auf eine ethische Basis zu stellen. Die jeweiligen berufsbezogenen Grundwerte sollen das Handeln maßgeblich bestimmen und so trotz gewisser kontextbezogener Varianten zu standardisiertem Handeln führen, das den Erwartungen der Beteiligten entspricht. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammen-hang eine bibliothekarische Berufsethik, d.h. eine Zusammenstellung der wesentlichen Grundwerte und Haltungen. Voraussetzung dafür aber ist, dass die Berufsethik nicht nur auf dem Papier existiert, sondern im berufsbezogenen Denken, Planen und Handeln präsent ist, also tatsächlich „gelebt“ wird. Einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung und Auseinandersetzung mit der Berufsethik können Fallstudien leisten.

    Die hier vorliegenden Fallstudien stehen daher in engem Zusammenhang mit der nationalen bibliothekarischen Berufsethik in Deutschland („Ethische Grundsätze der Bibliotheks- und Informationsberufe“) sowie dem internationalen Pendant („IFLA-Ethikkodex für Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftigte“).

    Berufsethiken werden in der Fachliteratur unterteilt in „mandatory“ / „prescriptive“ / „regulatory“ einerseits und „aspirational“ / „inspirational“ andererseits (vgl. Koeh-ler/Pemberton 2000, Sturges 2009). Der Unterschied liegt darin, dass erstere dem Kantschen Konzept der Pflichtenethik folgen und Verhalten vorschreiben. Berufsethik als Pflichtenethik legt einen moralischen Rigorismus zugrunde, der nicht selten auch Strafmaßnahmen im Falle der Verletzung einzelner Bestimmungen vorsieht. Im Unterschied zu diesem deontologischen Ansatz steht die zweite Gruppe der Kategorie der Verantwortungsethik im Sinne Max Webers nahe (vgl. Weber 1919). Die Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten soll nach dieser Vorstellung die konkreten Kontexte und die zu erwartenden Folgen in Betracht ziehen. Es kann daher in einer Berufsethik dieser Art keine verbindlichen Vorschriften geben, die strikt einzuhalten sind. Stattdessen wird Ethik verstanden als Reflexion moralischen Verhaltens (vgl. Luhmann 2008).

    Der IFLA-Ethikkodex ist eindeutig als „aspirational Code of Ethics“ zu identifizieren. In der Präambel heißt es etwa: „Dieser Ethikkodex umfasst eine Reihe ethischer Empfehlungen, die zum einen einzelnen Bibliothekarinnen und sonstigen im Informa-tionssektor Beschäftigten zur Orientierung dienen sollen…“ Es ist also definitiv nicht von starren Vorschriften und unabänderlichen Pflichten die Rede. Auch die Abhängigkeit von kulturellen Kontexten wird eingeräumt: „Es ist der IFLA bewusst, dass diese Grundsätze zwar das unveräußerliche Kernstück einer jeden bibliothekarischen Berufsethik darstellen, dass manche Details jedoch in Abhängigkeit von der jeweili-gen Gesellschaft, den gemeinschaftlichen Gepflogenheiten oder der virtuellen Gemeinschaft variieren können.“

    Dennoch hat diese internationale Berufsethik den Anspruch, die Grundwerte bibliothekarischen Handelns zusammenzustellen, um ethisch abgesicherte Entscheidungen zu erleichtern. Die Berufsethik dient also der Orientierung, der Standardisierung und der Entscheidungsfindung auf der Grundlage ethischer Reflexion.

    Auch die hier vorliegenden Fallstudien folgen diesem Verständnis des „aspirational Code of Ethics“. Daher werden zu den einzelnen Konfliktfällen in der Regel auch keine „richtigen“ und „falschen“ Lösungen angegeben, sondern verschiedene Lösungsvarianten, deren ethische Implikationen und Bezüge zu den bibliothekarischen Berufsethiken in Ansätzen herausgearbeitet werden. Auf der Grundlage dieser Anregungen soll der Nutzer der Datenbank sich ein eigenes Urteil bilden können.
  4. Zweck der Fallstudiensammlung

    Berufsethiken enthalten eher allgemeine Aussagen wie: „Eine Zensur von Inhalten lehnen wir ab.“ (Ethische Grundsätze 2007). In der Praxis zeigt sich schnell, dass in Einzelfällen Ausnahmen gemacht werden müssen, wie etwa wenn es um Jugendschutz geht.

    Nicht selten ziehen Kolleginnen und Kollegen den Gebrauchswert ihrer Berufsethik in Zweifel, weil es ihnen schwer fällt, die allgemeinen Aussagen mit ihrer alltäglichen Berufspraxis in Verbindung zu bringen. Diese Lücke sollen die Fallstudien schließen, in denen praktische Alltagssituationen dargestellt, in ihren Wertbezügen analysiert und in Bezug zur kodifizierten Berufsethik gesetzt werden. Berufsethiken werden durch auf sie bezogene Fallstudiensammlungen mit Leben gefüllt. Insofern sind bei-de komplementär.

    Darüber hinaus dient die hier vorliegende Zusammenstellung bibliothekspraktischer Fallstudien dazu,

    • den ethischen Bezug von Alltagsphänomenen bewusst zu machen
    • die ethische Reflexion des eigenen moralischen Verhaltens zu stimulieren
    • das ethische Verantwortungsgefühl zu steigern
    • deutlich zu machen, dass grundsätzlich Entscheidungsvarianten existieren
    • die Kontextabhängigkeit der Einzelfälle deutlich zu machen
    • die Standardisierung ethischen Verhaltens zu fördern
    • die Aufmerksamkeit für die nationale und die internationale bibliothekarische Berufsethik zu steigern
    • die Nutzer zur eigenen Positionierung zu animieren, in dem sie die be-schriebenen Fälle in dem dafür vorgesehenen Feld kommentieren.
  5. Materialgewinnung

    Die Fallstudien wurden z.T. entwickelt, in dem tatsächliche Konflikte aufgegriffen und beschrieben wurden, die in der Fachliteratur dokumentiert oder in den bibliothekarischen Diskussionslisten (vorzugsweise InetBib und ForumOeB) diskutiert worden sind. Z.T. wurden aber auch gezielt Szenarien entwickelt, um möglichst viele potenzielle Konfliktfelder abdecken zu können. Sofern Fundstellen existieren, wurden diese angegeben. Hingewiesen wird auch auf Sekundärliteratur, in der die im konkreten Fall behandelte Themenstellung angesprochen wird.
  6. Struktur der Fallstudien

    Die einzelnen Fälle werden in einer mehrstufigen Struktur dargestellt:
    Metadaten
    Fallbeschreibung
    Wertbezüge
    Lösungsvarianten
    Literaturhinweise
    Nutzerkommentare
    6.1 Metadaten

    Zunächst werden die Angaben zur formalen und inhaltlichen Erschließung gemacht:
    Titel
    Schlagwort
    Klassifikation
    Bibliothekstyp
    Räumlicher Bezug
    Handlungsfeld
    Verweis
    Autor

    Abbildung 1: Metadaten

    6.2 Fallbeschreibung

    Auf dieser Ebene wird der konkrete Fall ausführlich beschrieben.


    Abbildung 2: Fallbeschreibung

    6.3 Wertbezüge

    Die dritte Ebene ist den Wertbezügen vorbehalten. Angegeben werden hier die für den konkreten Fall relevanten Aussagen der deutschen bibliothekarischen Berufs-ethik (Ethische Grundsätze) und der von der IFLA 2012 verabschiedeten internatio-nalen Berufsethik (IFLA-Ethikkodex).

    Zu diesem Zweck wurden beiden Dokumente im Detail analysiert und die einzelnen Aussagen nummeriert und mit Kurzbezeichnungen versehen. Zur Unterscheidung wurde den Aussagen der Ethischen Grundsätze ein „D“ vorangestellt, jenen des IFLA-Kodex ein „I“.


    Abbildung 3: Wertbezüge
    Die in dieser Form kategorisierten Texte sind auf der Startseite der EFubiP-Datenbank einsehbar:


    Abbildung 4: Strukturierte Berufsethiken
    6.4 Lösungsvarianten

    Angeboten werden hier mehrere Varianten (max. 4) zur Lösung des beschriebenen Falles. Die einzelnen Varianten werden gleichzeitig im Hinblick auf ihre Folgen analysiert. Wenn dabei ethische Grundwerte gewahrt werden, die in den beiden Berufs-ethiken explizit erwähnt werden, so wird darauf mittels der Kurzbezeichnung verwiesen (vgl. z.B. D 1.7; I 2.7).


    Abbildung 5: Lösungsvarianten Berufsethiken
    6.5 Literaturhinweise

    An dieser Stelle werden sowohl die Quellen angegeben, in denen der konkrete Fall ggf. erwähnt oder ausführlich dargestellt wurde, als auch Sekundärliteratur, in der die angesprochene Thematik grundsätzlich behandelt wird.


    Abbildung 6: Literaturhinweise
    6.6 Nutzerkommentare

    Die letzte Ebene bietet Nutzern die Möglichkeit, sich zu den einzelnen Fällen zu positionieren. Korrekturen, Ergänzungen, kritische Stellungnahmen oder Hinweise auf eigene Erfahrungen oder weitere Fälle sind natürlich ebenfalls willkommen.
  7. Zur Nutzung der Datenbank

    EFubiP soll dazu dienen, die berufsbezogene ethische Reflexion von Bibliothekarin-nen und Bibliothekaren sowie anderen im Informationssektor Beschäftigen zu fördern. Es ist zu hoffen, dass die Fallstudien im Rahmen von Studium und Ausbildung, Fort- und Weiterbildung ebenso genutzt werden wie durch Kolleginnen und Kollegen, die sich aus eigenem Antrieb mit berufsethischen Fragen befassen. Zu wünschen ist ferner, dass die Datenbank durch Nutzerkommentare und sonstiges Feedback sukzessive optimiert und erweitert wird.
  8. Literatur

    Ethische Grundsätze 2007
    Ethische Grundsätze der Bibliotheks- und Informationsberufe. Bibliothek und Infor-mation Deutschland (BID). 2007. www.bibliotheksportal.de/themen/beruf/berufsethik/code-of-ethics-bid-2007.html (2.9.2013).

    IFLA-Ethikkodex 2012
    IFLA-Ethikkodex für Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftige. International Federation of Library Associations and Institutions. 2012. www.ifla.org/files/assets/faife/codesofethics/germancodeofethicsfull.pdf (2.9.2013).

    Koehler/Pemberton 2000
    Koehler, Wallace u. Michael J. Pemberton: A Search for Core Values. Toward a Model Code of Ethics for Information Professionals. In: Journal of Information Ethics. 9, 2000. H. 1. S. 26–54.

    Luhmann 2008
    Luhmann, Niklas: Ethik als Reflexionstheorie der Moral. In: Ders.: Die Moral der Ge-sellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. S. 270-347.

    Sturges 2009
    Sturges, Paul: Information Ethics in the Twenty First Century. In: Australian Aca-demic & Research Libraries, 40(4), 2009, S. 241-251. http://www.ifla.org/files/assets/faife/publications/sturges/information-ethics.pdf (2.9.2013).

    Weber 1919
    Weber, Max: Politik als Beruf. München, Leipzig: Duncker und Humblot 1919.