Recherche: Ethische Konflikte und Dilemmata in der bibliothekarischen Praxis

Übersicht über die bisher eingetragenen Fallstudien
In der Datenbank befinden sich 27 Fallstudien

IDTitelSchlagwortBibliothekstypHandlungsfeld
1 Einsatz von Filtersoftware Filtersoftware ; Informationsfreiheit ; Jugendschutz ; Zensur Öffentliche Bibliothek Benutzung
2 Völkermord an Armeniern Armenier ; Gleichbehandlung ; Meinungsfreiheit ; Neutralität ; Pluralismus ; Zensur Wissenschaftliche Bibliothek
Großstädtische Öffentliche Bibliothek
Kooperation mit externen Partnern
Raumvergabe
3 Sterbehilfe Neutralität ; Sterbehilfe ; Zensur Öffentliche Bibliothek Bestandsaufbau
4 Einsatz von RFID Datenschutz ; Nutzerorientierung ; Rationalisierung ; RFID ; Überwachung Öffentliche Bibliothek
Wissenschaftliche Bibliothek
Benutzung
Verwaltung
5 Anleitung zum Bombenbau Jugendschutz ; Informationsfreiheit ; Linksradikalismus ; Politische Gewalt ; Sprengkörper ; Terrorismus ; Zensur Öffentliche Bibliothek
Wissenschaftliche Bibliothek
Benutzung
6 Rezensionen im Katalog Kataloganreicherung ; Neutralität ; Rezension Öffentliche Bibliothek Erschließung
7 Hanfanbau Datenschutz ; Drogen ; Hanfanbau ; polizeiliche Ermittlungen ; polizeilicher Zugriff auf Nutzerdaten Öffentliche Bibliothek Verwaltung
8 Selbstmord Selbstmord ; Verantwortung ; Zensur Öffentliche Bibliothek Bestandsaufbau
9 Magersüchtiges Mädchen Datenschutz ; Jugendschutz ; Magersucht ; Verantwortung ; Vertraulichkeit Öffentliche Bibliothek Benutzung
10 Kreationismus Fundamentalismus ; Geschenk ; Kreationismus ; Neutralität ; Sekte Öffentliche Bibliothek
Wissenschaftliche Bibliothek
Bestandsaufbau
11 Ferkelbuch Atheismus ; Jugendschutz ; Kinderbuch ; Zensur Öffentliche Bibliothek einer Kleinstadt Bestandsaufbau
Erschließung
12 Sextourismus Erschließung ; Feminismus ; Frauenfeindlichkeit ; Sexismus ; Sextourismus ; Verschlagwortung Wissenschaftliche Bibliothek Erschließung
13 Kunde oder Nutzer? Bibliotheksfunktion ; Bildungsauftrag ; Daseinsvorsorge ; Ökonomisierung ; New Public Management Öffentliche Bibliothek Öffentlichkeitsarbeit
Verwaltung
14 Bucheinband Buchbinder ; Bucheinband ; Gefälligkeit ; Korruption Wissenschaftliche Bibliothek Verwaltung
15 Tierschützer Gleichbehandlung ; Jagd ; Neutralität; Tierschützer Öffentliche Bibliothek Benutzung
16 Negerkönig Kinderbuch ; Political Correctness ; Rassismus ; Textauthentizität Öffentliche Bibliothek Bestandsaufbau
17 Hausarbeitsbörsen Betrug ; Filtersoftware ; Hausarbeitsbörse ; Internetzugang ; Notenerschleichung ; Plagiarismus Wissenschaftliche Bibliothek Benutzung
18 Bestsellerservice Bestsellerservice ; Dienstleistungsangebot ; Gebühren ; Kostenfreiheit ; Professionalität ; Soziale Verpflichtung Öffentliche Bibliothek Benutzung
19 Homosexuelle Eltern Homosexualität ; Jugendschutz ; Kinderbuch ; Homosexuelle Eltern ; Zensur Öffentliche Bibliothek Benutzung
Erschließung
20 Burkaträgerin Burka ; Benutzungsordnung ; Frauenfeindlichkeit ; Kleidung ; Kulturelle Vielfalt ; Religion Öffentliche Bibliothek
Wissenschaftliche Bibliothek
Benutzung
21 Uringeruch Belästigung ; Beschädigung ; Gleichbehandlung ; Geruchsbelästigung ; Medien ; Uringeruch Öffentliche Bibliothek
Wissenschaftliche Bibliothek
Benutzung
22 Transvestit Belästigung ; Transvestit Öffentliche Bibliothek
Wissenschaftliche Bibliothek
Benutzung
23 Guttenberg Erschließung ; Guttenberg ; Plagiarismus ; Überlieferung Wissenschaftliche Bibliothek Erschließung
24 Einschulungsaktion Einschulung ; Korruption ; Leseförderung ; Neutralität ; Sponsoring Öffentliche Bibliothek Öffentlichkeitsarbeit
Verwaltung
25 Schlagwort Überfremdung Erschließung ; Neutralität ; Verschlagwortung Öffentliche Bibliothek
Wissenschaftliche Bibliothek
Erschließung
26 Autorenlesung Autorenlesung ; Erpressung ; Politischer Druck ; Qualität Öffentliche Bibliothek ; Stadtteilbibliothek Raumvergabe
27 Homophobie Ausstellung ; Homophobie ; Homosexualität ; Karikatur ; künstlerische Freiheit ; Meinungsfreiheit ; Zensur Großstädtische Öffentliche Bibliothek Benutzung

Fallstudie 11: Ferkelbuch
Fallbeschreibung:Im Kinderbuchbestand ihrer Bibliothek befindet sich das Bilderbuch:

Wo bitte geht´s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen / Michael Schmidt-Salomon ; Helge Nyncke. Aschaffenburg : Alibri-Verl. 2007. 38 S.
Das Bürgermeisterbüro setzt sich mit ihnen in Verbindung und lässt mitteilen, dass der Bürgermeister die Entfernung des Titels aus dem Bestand wünsche. Es habe Klagen aus der Bürgerschaft gegeben, dass für derartigen kinder- und jugendgefährdenden Unfug Steuermittel ausgegeben würden.

Sie befassen sich näher mit dem Fall und stellen fest, dass der Autor des Buches Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung ist, die sich einer Leitkultur des Humanismus und der Aufklärung verschrieben hat und prinzipiell religionskritisch agiert. Das Buch folgt dieser religionskritischen Tendenz und wurde offenbar von der Bruno Stiftung gefördert. Das Buch handelt von dem kleinen Ferkel und dem Igel, die sich auf der Suche nach Gott an einen Bischof, einen Rabbi und einen Mufti wenden. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Gott nur Angst machen wolle und erklären: "Wer Gott kennt, dem fehlt etwas. Nämlich hier oben."

Im Dezember 2007 hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien die Indizierung des Kinderbuchs als jugendgefährdende Schrift beantragt. Begründet wurde dieser Schritt damit, das Buch sei geeignet, Kinder und Jugendlich sozial-ethisch zu desorientieren. Der Antrag ist am 6. März 2008 abgelehnt worden.

Der Fall hat ein reges Medienecho gefunden. Auch wenn häufig Kritik an der mangelnden Qualität des Buches geübt wurde, so stieß doch der Indizierungsantrag einmütig auf Ablehnung. Wie ist im konkreten Fall vorzugehen?
Lösungsvariante 1:Sie führen die Anweisung des Bürgermeisters aus. Schließlich ist er ihr Dienstvorgesetzter. Zwar haben sie ein ungutes Gefühl dabei, doch wollen sie sich keine Rüge und schon gar keine Gefährdung ihres Arbeitsplatzes einhandeln. Das Fehlen dieses einen Buches wird die pluralistische und eigentlich gut ausbalancierte Struktur ihres Bestandes schon verkraften.

Bewertung:
  • Es handelt sich um ein eindeutiges Zensurbegehren, dem hier statt gegeben wird.
  • Sie verderben es sich nicht mit dem Bürgermeister: Das könnte auch der Bibliothek zugute kommen (Etatverteilung, Stellenplanung...)
  • Da nun ein Präzedenzfall geschaffen worden ist, werden sich solche Fälle möglicherweise wiederholen.
  • Der jugendgefährdende Effekt des Buches ist von der Bundesprüfstelle zurückgewiesen worden.
Lösungsvariante 2:Sie lehnen die Forderung des Bürgermeisters ab und verweisen auf die Entscheidung der Bundesprüfstelle. Zudem nennen sie weitere Öffentliche Bibliotheken, die das Buch ebenfalls im Bestand haben.

Bewertung:
  • Ein eindeutiges Zensurbegehren wurde zurückgewiesen.
    Vgl. D 1.3; D 2 1.2
  • Sie müssen mit wachsendem Druck seitens des Bürgermeisters rechnen, notfalls gar mit einer Rüge oder einer Entlassungsandrohung.
  • Es wurde kein Präzedenzfall geschaffen, weitere Zensurversuche werden unwahrscheinlicher.
  • Zwar haben sie dem Druck widerstanden, doch wird der Bürgermeister der Bibliothek in Zukunft kaum Wohlwollen zeigen und sich möglicherweise bei anstehenden Etatberatungen, Stellenplanungen usw. revanchieren.
Lösungsvariante 3:Sie bitten den Bürgermeister um einen Gesprächstermin und legen ihm den Sachverhalt dar. Ihr Dienstvorgesetzter zeigt sich in Teilen einsichtig. Gemeinsam einigen sie sich darauf, das Buch in der Bibliothek zu belassen, es jedoch aus der Kinderbuchabteilung zu entfernen und in die Erwachsenenabteilung umzustellen.

Bewertung:
  • Eine vollkommene Entfernung des Buches konnte verhindert werden.
  • Die Umstellung des eindeutig für Kinder gedachten Bilderbuches in die Erwachsenenabteilung kommt einer Form der Zensur gleich: Der Zugang für die eigentliche Zielgruppe wird erschwert.
  • Der Bürgermeister hat sie im Gespräch als verhandlungsbereit erlebt und schätzt ihr Entgegenkommen. Das könnte der Bibliothek in Zukunft bei Etatverhandlungen und Personalfragen nutzen.
Lösungsvariante 4:Sie versuchen den Bürgermeister in einem Gespräch davon zu überzeugen, dass seine Forderung einer Zensur gleichkäme, der sie aus berufsethischen Gründen nicht entsprechen können. Der Bürgermeister bleibt unbeeindruckt und beharrt auf seiner Ansicht. Daraufhin setzen sie sich umgehend mit ihrem Berufsverband in Verbindung. In der Fachzeitschrift in fachlichen Diskussionslisten und Blogs wird der Fall aufgegriffen. Bald wird auch die Presse hellhörig. Schließlich wird der Bürgermeister von der Presse um eine Stellungnahme gebeten. Wutentbrannt über diese "unnötigen" negativen Schlagzeilen gibt er nach und erklärt das Ganze für eine unglückliche Verkettung von Missverständnissen.

Bewertung:
  • Ein eindeutiges Zensurbegehren konnte zurückgewiesen werden.
    Vgl. D 1.3; D 2 1.2
  • Sie müssen mit wachsendem Druck, vielleicht gar Schikanen seitens des Bürgermeisters rechnen.
  • Es wurde kein Präzedenzfall geschaffen, weitere Zensurversuche werden unwahrscheinlicher.
  • Zwar haben sie dem Druck widerstanden, doch wird der Bürgermeister der Bibliothek in Zukunft kaum Wohlwollen zeigen und sich möglicherweise bei anstehenden Etatberatungen, Personalfragen usw. auf eine nicht nachzuweisende Art revanchieren.
Wertbezüge:
Berufsethik Deutschland (BID):
D 1.3 Freier Zugang:
"Wir ermöglichen unseren Kundinnen und Kunden den Zugang zu unseren Beständen und zu den öffentlich verfügbaren Informationsquellen."

D 1.7 Jugendschutz:
"Wir setzen uns auf der Grundlage des Jugendschutzgesetzes und weiterer gesetzlicher Regelungen für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Inhalten ein, die nicht für sie geeignet sind."

D 2.1 Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Zensurfreiheit:
"Wir setzen uns für die freie Meinungsbildung und für den freien Fluss von Informationen ein sowie für die Existenz von Bibliotheken und Informationseinrichtungen als Garanten des ungehinderten Zugangs zu Informationsressourcen aller Art in unserer demokratischen Gesellschaft. Eine Zensur von Inhalten lehnen wir ab."

Wertbezüge:
Berufsethik International (IFLA):
I 1.1 Freier Zugang:
"Zur Kernaufgabe von Bibliothekarinnen und anderen im Informationssektor Beschäftigten gehört es, den Zugang zu Informationen für alle zu gewährleisten zum Zwecke der persönlichen Entwicklung, Bildung, kulturellen Bereicherung, Freizeitgestaltung, Wirtschaftstätigkeit, der informierten Teilnahme an demokratischen Prozessen sowie der Festigung demokratischer Strukturen."

I 1.2 Zensurfreiheit:
"Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftigte lehnen Zugriffsverweigerungen und -einschränkungen auf Informationen und Ideen ab, seien es Zensurmaßnahmen durch Staaten, Regierungen, Religionsgemeinschaften oder zivilgesellschaftliche Einrichtungen."

I 2.7 Jugendschutz:
"Bibliothekarinnen und andere im Informationssektor Beschäftigte respektieren den Schutz von Minderjährigen, stellen jedoch gleichzeitig sicher, dass dies die Informationsrechte erwachsener Nutzer nicht einschränkt."

Weitere Wertbezüge:Zivilcourage
Literaturhinweise:Ferkel auf dem Index. Deutsches Familienministerium will antireligiöses Kinderbuch verbieten. In: Neue Zürcher Zeitung. 2. Februar 2008. http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/ferkel-auf-den-index-1.664060 (10.6.2013)

Free, Jan: Gottlose Tiere. In: Zeit online. 13.3.2008. http://www.zeit.de/online/2008/06/kinderbuch-religion/komplettansicht (10.6.2013)

Rettet das kleine Ferkel. http://www.ferkelbuch.de (10.6.2013)

Wo bitte geht´s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. In: Wikipedia. http://de.wikipedia.org/wiki/Ferkelbuch (10.6.2013)

Metadaten:
Titel:Ferkelbuch
SchlagwortAtheismus ; Jugendschutz ; Kinderbuch ; Zensur
KlassifikationBestandsaufbau : Religion
Erschließung : Aufstellung
Benutzung : Jugendschutz
BibliothekstypÖffentliche Bibliothek einer Kleinstadt
räumlicher Bezug:Kleinstadt in ländlicher Gegend
HandlungsfeldBestandsaufbau
Erschließung
VerweisVgl. Fall 19 - Homosexuelle Eltern
Autor:Hermann Rösch


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